Nach einer Stunde bin ich endlich sicher, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Der Schnee ist hier beiseite getreten, die Gompa längst nicht mehr in Sicht. Rechts von mir ist erneut die Nordwand des Kailasch aufgetaucht, diesmal sehe ich zusätzlich an seiner Ostflanke eine langgezogene Steilwand. Der Himmel ist jetzt klar und kalt. Direkt vor mir ein Haufen von Steinen, den die Pilger aufgetürmt haben. Rings um mich, Steine, die aus dem Schnee ragen und T-Shirts oder Mützen an haben. Dies ist die Stelle, an der der Pilger symbolisch stirbt, hier lässt er den Ballast – das was ihm lieb ist – hinter sich. Symbolisch lässt der Pilger eins seiner Lieblings-Kleidungsstücke hier zurück. Der Abschnitt von hier bis hinauf zum Pass stellt im Glauben der Buddhisten das Bardo, das heißt die Zwischenwelt zwischen Tod und Wiedergeburt dar. Man tut gut daran in dieser Zwischenwelt seinen Geist zu reinigen.
Ich stapfe allein über den hart gefrorenen Schnee. In meiner Vorstellung passt die Einsamkeit gut hierher. In der Zwischenwelt ist es bitterkalt. Die Luft schneidet ins Gesicht. Die Berge stehen weiß und klar. Kein Laut, kein Hauch, kein Wesen außer mir. Mir fallen Vorstellungen ein, die mir einmal vertraut waren. Ich bin Teil des Universums, ob in menschlicher oder anderer Gestalt. Insofern gibt es keinen Tod, oder nur den Tod der menschlichen Form, die sowieso nur so kurz wie ein Blitz ist.
Dann sehe ich in der Dämmerung vor mir Gestalten schaukeln. Ich bin nicht allein im Bardo. Im Glauben, dass es die Russen sind, versuche ich sie einzuholen. In dieser Wildnis kann Gesellschaft die menschliche Form retten. Als ich näher komme, sehe ich, dass sie Chubas, die tibetischen Fellmäntel mit langen Ärmeln anhaben. Es gibt keinen Grund, warum Russen Chubas anhaben sollten. Es sind Tibeter. Als ich sie erreiche, sitzen sie bei der Eiseskälte seelenruhig im Schnee. Sie haben eine Großmutter dabei von vielleicht 65 Jahren. Sie bestimmt das Tempo, das bedeutet für die anderen viele Pausen im Schnee. Ich schließe mich ihnen an, durch das moderate Tempo der Großmutter ermutigt.
Auf dem Dolma La trifft uns endlich die Sonne. Es ist wie eine Wiedergeburt. Genau dies beduetet dieser Pass für die Pilger auch. Meine Tibeter hocken sich in den Windschatten – wieder in den Schnee und teilen mit mir eine Art Kuchenteig, Candys-Zucker und Tsampa. Dass wir gleich nach der Wiedergeburt essen passt mir sehr gut, denn in meinem Leben davor habe ich auch immer oft und viel gegessen. Großmutter trinkt aus einer Flasche in der Eis schwimmt. Keiner von ihnen scheint zu frieren. Der Älteste hängt Gebetsfahnen zu den Gebetsfahnen und ruft dabei Tso tso tso tso. Ich hänge meine Fahnen auf und rufe ebenfalls enthusiastisch Tso tso tso tso und alle lachen. Ein Lama taucht aus dem Nichts auf und überquert den Pass. Auf 5660m Höhe und weniger als 10 Grad Minus lassen wir es uns gut gehen.
Großmutter war als Erste wieder aufgebrochen. Das hat zur Folge, dass wir anderen auf dem schmalen Pfad nicht vorbei kommen. Großmutter rutscht den steilen Abstieg teilweise auf dem Po hinab. Geduldig bilde ich das Schlusslicht. Bei einer Pause klopft der Alte mit seinem Stock auf meinen Schuh und sagt: Jagbado. Das heißt gut. Ich habe Wanderschuhe an. Aber selbst, wenn ich meine ältesten Turnschuhe anhätte, wären sie immer noch besser als die Schuhe meiner Tibeter. Sie haben dünne Stoffturnschuhe an.
Auf einer blendend weißen Ebene bitte ich überholen zu dürfen und verabschiede mich. Kurz darauf hinter mir Schritte. Ein Mann in der populären Militäruniform und mit kleinem Rucksack folgt mir. Dass er heute morgen in Darchen losgegangen sei und die 53 km der Kora komplett an einem Tag zurücklegen will, wundert mich schon nicht mehr. Aber er versichert auf meine Nachfrage mehrmals, dass er die Kora bereits 350 Mal begangen ist. Davon 2 Mal mit Niederwerfungen, bei denen der Pilger nur etwa 3 Schritte geht bis zu dem Punkt, wo seine Hände bei der Niederwerfung waren. Dann wirft er sich wieder nieder. Dazu kommt er aus Amdo, was mindestens eine Woche Reise entfernt ist. Auch er trägt leichte Stoffschuhe. In seinem Rucksack scheint so gut wie nichts drin zu sein. Bei einer Pause befördert er immerhin eine Schachtel Zigaretten daraus hervor und steckt sich eine an. Kurz darauf verschwindet er vor mir am Horizont. Wieder allein genieße ich mein neues Leben in der nun wärmenden Sonne.
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