DER BERG KAILASCH



Der wohl heiligste Berg der Erde ragt einsam aus der tibetischen Hochebene. Niemand hat ihn bestiegen. Messner hatte als einziger die Erlaubnis und hat im Angesicht des Berges und seiner spirituellen Bedeutung auf die Besteigung verzichtet. Anhänger vier großer Religionen verehren ihn als den Nabel der Welt und pilgern um seinen Fuß: Buddhisten, Hinduisten, Jains und die Bön, die Vorreligion des Buddhismus in Tibet. Bis auf die Pilger der letzen Religion umrunden die Gläubigen den Berg im Uhrzeigersinn. Die Umrundung wird auf tibetisch Kora genannt. Die Kora des Berges Kailasch erstreckt sich über 53 km und führt über einen Pass von 5600m Höhe. Viele Tibeter legen diese Stecke an einem Tag zurück, indische Hindus oder wir brauchen 3 Tage. Einige Pilger umrunden den Berg ausschließlich in dem sie sich niederwerfen, aufstehen, 3 Schritte bis zu der Stelle gehen, wo ihre Hände lagen und sich erneut niederwerfen. Die Kora wird von ganzen Familien einschließlich Kindern und Alten begangen und hat in Tibet tiefste religiöse Bedeutung. Bereits auf der Hinreise zum Berg, die oft Wochen in dem unwegsamen Gelände dauert bereitet sich der Gläubige vor, beschreibt Gebetsfahnen mit Namen von lieben Angehörigen oder für sie besonderen Personen. Die Kora selbst symbolisiert das Rad des Lebens, auf ihrem Weg wird der Pilger sterben und wiedergeboren werden. Mit dem Anstieg zum 5600m hohen Dolma La Pass beginnt das Sterben. An einem Tempel vor dem Pass läßt man die Dinge hinter sich, die einem lieb sind, die einen festhalten, symbolisiert zum Beispiel durch sein Lieblingskleidungsstück, das man dort zurückläßt. Hier stirbt der Gläubige. Der Weg von diesem Tempel bis zum Pass ist der wichtigste Abschnitt der Kora, der Bardo darstellt, die Zeit zwischen Tod und Wiedergeburt. Hier sollte der Geist frei und rein gemacht werden. Das Überqueren des Passes schließlich steht für die Wiedergeurt, die durch den Abstieg in ein grünes Tal begleitet wird. Die Kora sollte mit sowenig Gepäck wie möglich gelaufen werden, denn das Gepäck symbolisiert den Ballast seelischer und materieller Art, den wir mit uns tragen. Die Kora bietet Gelegenheit soviel wie möglich hinter sich zu lassen.
Aus buddhistischer Sicht haben nur wenige Menschen in diesem jetzigen Leben ein Stadium erreicht, in dem sie Gelegenheit haben, den Berg zu umschreiten. Für viele gilt, dass sich zunächst ihr Karma bessern muss. Wenn mein Karma stimmt, schneit es heute Nacht nicht und ich breche noch in den frühen Morgenstunden zum heligen Dolma La auf.
Doch beginnen wir von vorne - an der Grenze Nepal / Tibet.

Nyalam, Vorort zur Einöde

Wir sind drin! Als erste Touristen, die wieder in Tibet einreisen! Vorgestern Abend haben wir das Gruppenvisum für 2 Personen erhalten, die Mindestanzahl, die eine Gruppe definiert. Bis zum 12.11. werden wir China in einem rasanten Tempo im Uhrzeigersinn durchquert haben. Beginn ist bei etwa 6 Uhr von Nepal aus, das Ende liegt bei 4 Uhr in Hong Kong. Dazwischen liegen die kaum besiedelte westliche Hochebene Tibets einschließlich des Berges Kailasch, Kashgar die Stadt an der Seidenstraße, Xinjang, die muslimische und orientalisch geprägte nordwestliche Provinz Chinas und schließlich durchqueren wir das Hauptland China in hoffentlich reibungsloser Eisenbahnfahrt hinab nach Hong Kong. Das Tempo der Reise wird jedoch anfangs schön rausgenommen, da wir uns erneut akklimatisieren müssen. Dazu genießen wir 3 Tage lang die chinesische Kleinstadt Nyalam, welche die Nachteile eines Provinzkaffes mit dem Charme von Industrieanlagen kombiniert. Zudem liegt die Stadt in einem Tal, das täglich von Stürmen geschliffen wird. Sowohl die Stadt als auch die Stürme sind mir ausreichend vertraut. Letztes Jahr im Mai kämpfte ich stundenlang mit einem Fahrrad gegen den Sandsturm. Der Rest des Teams bis auf einen anderen Wahnsinnigen war schon längst vom Fahrrad gestiegen und mit dem Jeep vorgefahren. Nach 13 Stunden Kampf gegen Pässe und Sturm kamen wir zum Sonnenuntergang endlich am Ziel an und wurden mit einem Nest von Betonarchitektur belohnt: Nyalam.

Karte Nepal und Tibet


Zur Orientierung: Auf der ersten Karte findet ihr Kathmandu und Lhasa, die die meisten kennen. Das obere Dolpo, wo wir im September Wandern waren befindet sich nordwestlich von Kathmandu, genauer: westlich von Mustang und nördlich vom Dhaulagiri. Die Reise zum Kailasch führt von Kathmandu über die Grenze nach Tibet bei Zhangmu, dann nach Osten über den schmal eingezeichneten Weg nach Saga, Paryang, Darchen. Von dort dann beginnt die Kailasch- und Manasarovar-Kora.

Auf der zweiten Karte sieht man den Weg vom Kailasch nach Kaschgar, wobei der Weg immer nach Nordwesten führt. Diese Strecke ist 1900km lang und liegt nicht selten über 5000m Höhe. Guge, das alte Königreich befindet sich auf der Karte nicht weit nordwestlich vom Kailasch bei Tsaparang. Weiter nordwestlich führt der Weg durch den westlichen Teil von Changtang, das höchste Plateau der Erde. Danach senkt sich die Piste durch steile kahle Täler und über schwindelerregende Pässe hinab in die von Pappeln besäumten Alleen von Xingjang bis zur Seidenstraßen-Stadt Kaschgar. Dass der Weg teilweise sensible Regionen durchquert, sieht man schon auf der Karte an der Eintragung: Claimed by India. Under chinese administration. Hier sieht man an Fahrzeugen fast nur Militärlastwagen.

Erdbeeraroma

Rollt man von Nyalam auf der neuen Asphaltstraße acht km nach Norden, weist ein Schild auf die Milarepa Höhle hin. Nach einem kurzen Fußweg, findet man ein gerade wieder aufgebautes tibetisches Kloster. Dem chinesischen Betongebäude wurden Linien eingraviert, die die alte Steinarchitektur simulieren. Die Wände sind so gerade und makellos gezogen, wie es bei keinem historischen Kloster zu finden ist. Die Fenster sind aus doppeltem Glas und zum Schieben, der Fußboden aus glatten Fliesen, das Dach zünftig geteert. Der Bau wirkt wie eine synthetische Nachbildung von einem organischen Orginal. Es hat soviel mit tibetischen Klöstern zu tun wie industrielles Erdbeeraroma mit Erdbeeren. Das Kloster ist leer und hohl. Kein Mönch feiert hier seine Andacht. Die Nachbildung will einfach nicht anfangen zu leben. Aber es liegen schon irgendwo Schlüssel bereit, um die Milarepa Höhle des Klosters für Touristen aufzuschließen. Irgendwo. Nur wir finden die Schlüssel nicht.

PANYANG, Dorf am Pilgerweg zum heiligen Kailasch

Seit Nyalam sind wir nun 2 Tage im Toyota Landcruiser unterwegs. Wir fahren durch unendlich weite Landschaften. Die Täler sind lang und breit; stünde auf der anderen Seite des Tales ein Dorf...wir würden es nicht sehen. Im Süden erstreckt sich die Himalaya-Kette, heute erkennen wir Bergsilhouetten wieder, die wir von der anderen Seite, vom oberen Dolpo aus, kennen. Unter ihnen befindet sich ein bizarr geformter, zweizackiger Felsgipfel. Vor den schneebedeckten Giganten erstreckt sich eine schier endlose Steppe auf denen Yaks grasen. Gestern und auch heute sahen wir wilde Esel. Die Herde von heute zählte etwa 30 Tiere und war so nah, dass unsere Kameraobjektive sie gut erfassen konnten. Näherten wir uns ihnen, so nahmen sie in einer langen Kette Reißaus. Schließlich galoppierte die ganze Herde vor unserem fahrenden Jeep entlang, wir stoppten, sprangen aus dem Wagen und rissen die Kameras hoch. Es ist eine Jagd, eine Jagd nach dem besten Schnappschuss. Die Tiere sind elegant anzusehen. In einer Wolke aus Staub verschwanden sie in weitem Bogen hinter einer Sanddüne.
Es hat dieses Jahr viel geregnet. Zwischen den Dünen und der knochentrockenen Steppen stehen Seen, die die Berge spiegeln. Im tiefen Gras weiden Yaks.

Panyang war uns als elendes Dorf angekündigt worden. Aber wir treffen auf eine angenehme Siedlung. Vielleicht wird der Eindruck auch durch die tief stehende Abendsonne gemildert, die alles in ein leuchtendes Gold taucht: Die kleine Gompa, die freundlichen sonnengegerbten Gesichter der Einwohner, die weiß gekalkten oder lehmfarbenen Mauern, die streunenden Mastiff Hunde, die sich nachts zusammenrotten und das Dorf beherrschen. Unser Gasthof ist auf tibetische Art gebaut, mit einem Haupthaus und einer langezogenen Baracke, in der sich die Zimmer befinden. Zur Toilette führt eine kleine Treppe hinauf, in dem gestampften Lehm drei durch Holz verkleidete Löcher. Ein Dach gibt es nicht, was für einen spektakulären Blick auf den Himalaya oder auf den nächtlichen Sternenhimmel sorgt.
Wir sind mit Matjiaz und Anna unterwegs. Matjiaz ist Reisefotograf und jedes Jahr 4-6 Monate auf der ganzen Welt unterwegs. Es macht Spaß mit ihm nach den besten Fotos zu jagen. Trotz seiner viel besseren Ausrüstung und seiner Erfahrung klingt keine Hybris bei ihm durch. Während Matjiaz impulsiv ist und immer unter Strom zu stehen scheint, verkörpert Anna den Gegenpol, die Ruhe und Geduld. Beide sind seit Januar mit einem Nissan Patrol mit eingebautem 300-Liter Extratank unterwegs. Start war ihr Heimatland Slowenien, über Marokko, die Sahara, den Orient bis Indien und Nepal. Nun wartet ihr Wagen in Kathmandu auf ihre Rückkehr, die Mitnahme des Nissans nach Tibet wäre teuer und bürokratisch gewesen.






DIRA PHUG GOMPA oder der heilige Mann aus Mustang

Im Vergleich zu tibetischen Häusern oder Zelten sind unsere Wohnungen daheim Festungen. Bei uns muss man meist an der Haustür, dann an der Wohnungstür klingeln und ist auf die Gnade des Bewohners angewiesen, dass er aufmacht. Auch danach darf man erst eintreten, wenn man dazu aufgefordert wird. Ganz anders hier. Die Türen sind trotz der Kälte am Tage offen, man kann jederzeit in jedes Haus eintreten ohne Klopfen oder Fragen. Ich habe es oft probiert und nie hat sich jemand beschwert. So sitzen wir heute in der Küche des tibetischen Klosters, das Gompa genannt wird, und alle möglichen Leute kommen einfach herein und setzen sich auf die Polster um den Ofen, auf dem ein Wasserkessel dampft. Jedem, der lang genug bleibt, wird Buttertee eingeschenkt. Auch unsere Zimmertür und die Klosterhaupttür lassen sich von innen nicht verriegeln und die Türen sind nur angelehnt. Tagsüber stecken tatsächlich einige Tibeter die Köpfe zur Tür hinein und schauen neugierig.

In der Gompa treffen wir einen etwa 50jährigen Mann wieder, der uns schon in Kodari, an der Grenze zwischen Nepal und Tibet aufgefallen war. Damals in der Hitze trug er das gleiche wie jetzt bei Minusgraden: Einen Mantel mit nach innen gekehrtem Fell, das die Tibeter Chuba nennen, eine Art lange Unterhose und Halbschuhe ohne Socken. Einen Mala, die tibetische Version eines Rosenkranzes, liegt wie angeklebt auf seinem Kopf. Als ihm jemand Handschuhe für den Dolma La Pass schenken will, lehnt er dies mit der Begründung ab, dass die Handschuhe ihn beim Zählen der Perlen des Mala stören würden. Einmal bekommt er gut aussehenden Reis mit Gemüse vorgesetzt. Er starrt die Schüssel an, wie etwas, das er noch nie gesehen hat. Dann verlangt er Tsampa, das Gerstenmehl und leckt es ohne es mit Buttertee zu mischen aus der Schüssel. Er hat einen Rucksack dabei, wie er wahrscheinlich seit Jahrhunderten in seiner Region gefertigt wird: Zwei U-förmig gebogene Hölzer mit der Öffnung nach unten, die mit Leder verspannt sind. Der Rucksack ist in der Lage auf den vier Beinen der beiden „U“ zu stehen. Zwischen den „U“ und den Lederverspannungen ist Raum für seine zwei Säckchen. Darin kann ich ausschließlich Butterlampen erkennen, die als Opfergaben dienen. Wenn er noch Reiseutensilien dabei hat, dann können diese nicht viel Raum einnehmen. Er ist stets freundlich. Er spricht kein Wort Englisch. Als einziges bekomme ich heraus, dass er aus der Region Mustang in Nepal kommt, die stark tibetisch beeinflusst ist. Den Weg von der Grenze bis hierher nördlich des Kailasch hat er auf mir unbekannte Weise genauso schnell zurückgelegt wie wir mit dem Jeep. Er wird wahrscheinlich Busse oder Trucks benutzt haben und in den Klöstern übernachtet haben. Zwar geht er die Kora nicht an einem einzigen Tag wie viele Tibeter. Aber er hat viel zu tun. Den Nachmittag sitzt er in der Grotte des Klosters und vollzieht religiöse Rituale. Er spritzt rotes Wasser an die Klostermauern und zündet Butterlampen an.
Am nächsten Morgen noch in der Dämmerung sehe ich ihn im Schnee mit seinem historischen Rucksack in Richtung Dolma La Pass aufbrechen.







DOLMA LA, Pass der Wiedergeburt

Um 6:15Uhr sehe ich zwei Lichter von Taschenlampen durch die Nacht den weiß verschneiten Hang hinauf schaukeln. Das müssen die 4 Tibeter sein, die wie wir in der Gompa geschlafen haben. Ein Mann, der aussieht wie ein Indianer und 3 Frauen. Alle mit leichten Stoffschuhen bekleidet. Dann um 7 Uhr wieder Lichter auf dem Schnee. Ich vermute, dass es die Gruppe von Russen sind, allerdings wollten sie eigentlich eine halbe Stunde später los. Dann endlich um 7:20 Uhr, offizieller Pekinger Zeit, die etwa 2 Stunden, der lokalen Zeit voraus ist, torkel ich die steile Treppe der Gompa hinab, hinaus in die Schneenacht. Die Sterne stehen funkelnd über mir, man erahnt die Berge ringsherum, nur der heilige Kailasch hüllt sich majestetisch in eine Wolke. Aufbruch zum Dolma Pass, auf tibetisch Dolma La, dem wichtigsten Abschnitt der Kailasch Kora.

Nach einer Stunde bin ich endlich sicher, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Der Schnee ist hier beiseite getreten, die Gompa längst nicht mehr in Sicht. Rechts von mir ist erneut die Nordwand des Kailasch aufgetaucht, diesmal sehe ich zusätzlich an seiner Ostflanke eine langgezogene Steilwand. Der Himmel ist jetzt klar und kalt. Direkt vor mir ein Haufen von Steinen, den die Pilger aufgetürmt haben. Rings um mich, Steine, die aus dem Schnee ragen und T-Shirts oder Mützen an haben. Dies ist die Stelle, an der der Pilger symbolisch stirbt, hier lässt er den Ballast – das was ihm lieb ist – hinter sich. Symbolisch lässt der Pilger eins seiner Lieblings-Kleidungsstücke hier zurück. Der Abschnitt von hier bis hinauf zum Pass stellt im Glauben der Buddhisten das Bardo, das heißt die Zwischenwelt zwischen Tod und Wiedergeburt dar. Man tut gut daran in dieser Zwischenwelt seinen Geist zu reinigen.
Ich stapfe allein über den hart gefrorenen Schnee. In meiner Vorstellung passt die Einsamkeit gut hierher. In der Zwischenwelt ist es bitterkalt. Die Luft schneidet ins Gesicht. Die Berge stehen weiß und klar. Kein Laut, kein Hauch, kein Wesen außer mir. Mir fallen Vorstellungen ein, die mir einmal vertraut waren. Ich bin Teil des Universums, ob in menschlicher oder anderer Gestalt. Insofern gibt es keinen Tod, oder nur den Tod der menschlichen Form, die sowieso nur so kurz wie ein Blitz ist.
Dann sehe ich in der Dämmerung vor mir Gestalten schaukeln. Ich bin nicht allein im Bardo. Im Glauben, dass es die Russen sind, versuche ich sie einzuholen. In dieser Wildnis kann Gesellschaft die menschliche Form retten. Als ich näher komme, sehe ich, dass sie Chubas, die tibetischen Fellmäntel mit langen Ärmeln anhaben. Es gibt keinen Grund, warum Russen Chubas anhaben sollten. Es sind Tibeter. Als ich sie erreiche, sitzen sie bei der Eiseskälte seelenruhig im Schnee. Sie haben eine Großmutter dabei von vielleicht 65 Jahren. Sie bestimmt das Tempo, das bedeutet für die anderen viele Pausen im Schnee. Ich schließe mich ihnen an, durch das moderate Tempo der Großmutter ermutigt.
Auf dem Dolma La trifft uns endlich die Sonne. Es ist wie eine Wiedergeburt. Genau dies beduetet dieser Pass für die Pilger auch. Meine Tibeter hocken sich in den Windschatten – wieder in den Schnee und teilen mit mir eine Art Kuchenteig, Candys-Zucker und Tsampa. Dass wir gleich nach der Wiedergeburt essen passt mir sehr gut, denn in meinem Leben davor habe ich auch immer oft und viel gegessen. Großmutter trinkt aus einer Flasche in der Eis schwimmt. Keiner von ihnen scheint zu frieren. Der Älteste hängt Gebetsfahnen zu den Gebetsfahnen und ruft dabei Tso tso tso tso. Ich hänge meine Fahnen auf und rufe ebenfalls enthusiastisch Tso tso tso tso und alle lachen. Ein Lama taucht aus dem Nichts auf und überquert den Pass. Auf 5660m Höhe und weniger als 10 Grad Minus lassen wir es uns gut gehen.

Großmutter war als Erste wieder aufgebrochen. Das hat zur Folge, dass wir anderen auf dem schmalen Pfad nicht vorbei kommen. Großmutter rutscht den steilen Abstieg teilweise auf dem Po hinab. Geduldig bilde ich das Schlusslicht. Bei einer Pause klopft der Alte mit seinem Stock auf meinen Schuh und sagt: Jagbado. Das heißt gut. Ich habe Wanderschuhe an. Aber selbst, wenn ich meine ältesten Turnschuhe anhätte, wären sie immer noch besser als die Schuhe meiner Tibeter. Sie haben dünne Stoffturnschuhe an.

Auf einer blendend weißen Ebene bitte ich überholen zu dürfen und verabschiede mich. Kurz darauf hinter mir Schritte. Ein Mann in der populären Militäruniform und mit kleinem Rucksack folgt mir. Dass er heute morgen in Darchen losgegangen sei und die 53 km der Kora komplett an einem Tag zurücklegen will, wundert mich schon nicht mehr. Aber er versichert auf meine Nachfrage mehrmals, dass er die Kora bereits 350 Mal begangen ist. Davon 2 Mal mit Niederwerfungen, bei denen der Pilger nur etwa 3 Schritte geht bis zu dem Punkt, wo seine Hände bei der Niederwerfung waren. Dann wirft er sich wieder nieder. Dazu kommt er aus Amdo, was mindestens eine Woche Reise entfernt ist. Auch er trägt leichte Stoffschuhe. In seinem Rucksack scheint so gut wie nichts drin zu sein. Bei einer Pause befördert er immerhin eine Schachtel Zigaretten daraus hervor und steckt sich eine an. Kurz darauf verschwindet er vor mir am Horizont. Wieder allein genieße ich mein neues Leben in der nun wärmenden Sonne.












Essen und Transport in Tibet

Schwierig war die Versorgung in Tibet, vor allem in den abgelegenen Regionen, in denen wir uns bewegten. In den Klöstern gab es manchmal nur Tsampa, das Alltagsgericht der Tibeter. Wie man es herstellt steht im alten Block unter „Ramba Tsampa“. Letztlich besteht Tsampa aus geröstetem Gerstenmehl, das die Tibeter entweder trocken als Pulver aus der Schüssel lecken oder meist mit Buttertee zu einem knetbaren Brei anmischen, den sie dann mit der Hand essen. Wir haben es oft mit heißem Wasser und Milchpulver angerührt, so dass es Haferbrei nicht unähnlich schmeckt. Dennoch stellte es fuer mich keine ganze Mahlzeit dar.
In Tibet fanden wir häufig tibetisches Brot vor – eine Art Fladenbrot. In den Staedtchen gab es oft Thukpa, eine Nudelsuppe, die man mit Gemüse oder Fleisch anreichern kann. Die schlechtere Alternative waren chinesische Fertigsuppen. Besonders morgens gab es oft gar nichts zu essen in den Gasthäusern oder Klöstern, was vor allem daran lag, dass wir schon aufgebrochen waren, bevor die Tibeter aus ihren Betten gekrochen waren. Nach meinem Verständnis stehen die Tibeter so spät auf, weil die Temperaturen vor Sonnenaufgang unter Null liegen, zumindest um diese Jahreszeit. Da wir um das Nahrungsproblem wussten, haben wir uns in Deutschland und Nepal mit Essen eingedeckt, das wir in einem Seesack mitnahmen. Da wir den Luxus eines Toyota Landcruiser Jeeps haben, macht das Extragepäck uns nicht viel aus. Trotz des Vorrates an Nahrung war die Zeit in Tibet kulinarisch gesehen eine Fastenzeit, was zu den heiligen Stätten, die wir besuchten ganz gut passt. Mit der Einreise in Xingjang ändert sich das wieder und die türkisch-orientalische Küche steht zu unserer Verfügung.

Tibetische Straßen sind entweder extrem schlecht oder perfekt. Die noch nicht ausgebauten Wege sind Schotterpisten durch Schlaglöcher und Flüsse, durch Canyons und über Eisflächen. Aber dort, wo die Chinesen schon mit der Asphaltmaschine waren, entsprechen die Straßen dem europäischen Standard und übertreffen die Berliner Straßen bei Weitem. Die Chinesen meinen es Ernst mit dem Straßenbau und sind nicht gewillt, die Straßen Erdrutschen oder sonstiger Erosion auszusetzen. Sie sprengen, betonieren, glätten, tunneln, überbrücken, entwässern, fundamentieren bus jegliche Gefahr gebannt ist. Dann Asphalt, Straßemarkierung, Leitplanken, das ganze Programm. Und das alles in rasender Geschwindigkeit und unter schwierigen klimatischen Bedingungen. Auf den Abschnitten wo ich im letzten Jahr noch mit dem Fahrrad über Schotterpiste gefahren bin, rollten wir nun schon oft über Asphalt.
Als Touristen sind wir von der chinesischen Seite genötigt mit einer Reiseagentur zu fahren und einen staatlich geprüften Reiseführer dabei zu haben. Dazu muss das Gruppenvisum den genauen Weg angeben. Der Reiseführer ist vor allem dazu da zu überwachen, dass dieser Weg eingehalten wird. Er selbst wird wiederum von der Polizei überwacht, wo er uns bei den Übernachtungen anmelden muss. Immerhin reisen wir durch sensibles Gebiet, nicht nur weil es Tibet ist, sondern auch, weil wir Gebiete durchfahren, die von Indien beansprucht werden, die aber unter chinesicher Kontrolle sind. Wir sind überhaupt überrascht, dass unser ungewöhnlicher Reiseplan durch Tibet und eine zweite sensible Region , nämlich Xingjang so abgesegnet wurde. Dazu kommt, das wir ab Kaschgar durch Xingjang ohne Begleitung reisen werden. Die Bestimmungen für Tibet hinsichtlich Reiseführer und Fahrzeug haben immerhin sichergestellt, dass wir komfortabel in einem Toyota Landcruiser reisen, der auch die abenteuerlichen Schotterpisten Tibets mit Grazie nimmt. Das Reisen ohne gechartertes Fahrzeug und Reisebegleitung wäre nicht nur illegal, sondern extrem beschwerlich, da wir kaum auf Fahrzeuge treffen, die Dörfer sind oft einen ganzen Tag voneinander entfernt und bieten nur basalste Möglichkeiten hinsichtlich Nahrung und Unterkunft. Dennoch trafen wir vor 3 Tagen auf einen hartgesottenen Japaner, der mit seinem Fahrrad allein und lange Zeit illegal in den Weiten unterwegs war.

Seralung Gompa oder der illegale Dalai Lama

Unser Fahrer beginnt regelmäßig während der Autofahrt Mantras, buddhistische Gebete, zu rezitieren. Meistens sind sie an die Göttin Tara gerichtet: Om tare tutari ture soha. Oder aber: Om muni muni maha muniye soha. Er betet die Mantras so schnell, dass man die Worte kaum versteht. Die fallende Melodie und die Wiederholung haben eine beruhigende Wirkung. Am Abend beim Zusammensitzen am Ofen der Küche berichtet er, dass der Dalei Lama die Tibeter aufgefordert habe jeden Morgen Mantras zu rezitieren, da Tibet und Lhasa durch die Unruhen im Frühjahr in einer schwierigen Lage seien. In den letzten Tagen hat es dazu noch ein Erdbeben in der Nähe von Lhasa gegeben, die Rede war von zunächst 35 Toten. Nachdem unser Fahrer den Dalai Lama erwähnt hat, hole ich ein Passfoto von seiner Heiligkeit hervor, das ich aus Kathmandu geschmuggelt habe. Die Augen des Fahrers weiten sich, erstaunt hält er inne. Gern nimmt er das Foto entgegen, der Reiseführer fragt ebenfalls nach einem Foto vom Dalai Lama. Beide wechseln ehrfurchtsvolle Worte, bestaunen die Bilder und streichen die Eselsohren glatt.

Trugo Gompa, Manasarovar See

Die Tür aus dünnem Sperrholz hat offene Spalten, die so groß sind, dass ich meine Hand durchstecken kann. Dazu bleibt sie nicht von allein zu. Mit Rucksack und einer Decke habe ich halbwegs Abhilfe geschaffen. Für dieses kalte Loch, das wie hier üblich ohne Waschgelegenheit, dafür aber mit Gemeinschaftsplumpsklo angeboten wird, wollte die Wirtin 60 Yuan = 6 Euro pro Person. Nur durch zähe Verhandlungen, in denen wir androhten im Landcruiser zu schlafen und schon die Rückbank umgelegt hatten, ließ sich die Wirtin erbarmen und akzeptierte schließlich die Hälfte. Und nun ein karges Frühstück in einem kalten Raum noch vor Sonnenaufgang. Nach dem Frühstück eine Tasse Kaffee beim Zelt von Anna und Matjiaz. Vor uns läuft die Alte von gestern Abend ihre Mini-Kora um die örtliche Chorten, wobei sie das neongrüne Zelt umgehen muss.
Erst um 11 Uhr beginnen wir unsere Kora, die um den See Manasarova führt. Dies ist der zweite heilige Pilgerweg in der Umgebung des Kailasch. Wir holen immer wieder 3 Tibeterinnen ein, die ebenfalls die Kora laufen. Dann überholen sie uns wieder bei einer unserer Pausen.

Der See liegt klar und blau zu unserer Rechten, mit der Sonne umwandern wir ihn. Am späten Nachmittag zweifeln wir, ob wir nicht die Gompa übersehen haben, da kein Gebäude weit und breit in Sicht ist. Uns bleibt nichts übrig als weiter zu wandern. Dann, um 18:30Uhr taucht sie endlich in einer Senke auf. Ein alter, schusseliger aber um so freundlicherer Herr empfängt uns und macht mit uns den ganzen Abend Konversation – ohne dass wir einer gemeinsamen Sprache mächtig wären. Dabei kochen erst wir, dann er, dann schmeißt er den Bullerofen mit Ziegen-Dung an. Sofort wird es warm in der Küche, so dass er es nicht mehr aushält und die Tür aufmacht. Inzwischen versinkt der Kailasch über dem Manasarovar in der Abendglut. Auf der anderen Seite glimmen drei Hügel wie erfrorene Wellen schneekalt in die Nacht.











Trugo Gompa, Chiu Gompa und die heißen Quellen von Thetapury

Kurz nach Sonnenaufgang Aufbruch von der Trugo Gompa. Die teilweise versumpften Wiesen strecken sich still am Ufer entlang. Die Wasserlöcher sind zugefroren, tauen aber unter der kräftigen Sonne im Tagesverlauf auf. Ein Hase springt beiseite, Pfeifhasen gucken neugierig aus ihren Löchern. Wenn ich huste, zucken sie zusammen. Eine Herde Ziegen drängt sich an den Manasarovar See, um ihren Durst zu stillen. Das Hirtenmädchen in Jeans trifft mich beinah mit einem Stein aus ihrer Schleuder, wobei sie vor Schreck aufschreit.
Das Ufer zieht sich in die Länge. Nach jeder Klippe vermuten, erhoffen wir unser Ziel Chiu Gompa. Wir sind von der Höhe und vom Gewichtsverlust durch karges Essen und Kälte ausgezehrt. Irgendwann treffen wir eine Gruppe von Russen, von denen einige trotz der kühlen Temperaturen baden gehen. Sie versichern uns, was wir ohnehin schon immer glauben: Hinter der nächsten Klippe liege Chiu Gompa. Als wir die Russen verlassen, wandern wir noch mehr als eine Stunde an mehreren Klippen vorbei.
Thukpa, Nudeln in ihrer Suppe mit Ei, in einem tibetischen Teehaus. Davor 8 Motorräder, die landesüblich ausstaffiert sind: Fransen an den Enden der Lenkstange, Plasteblumen , die über die Rückspiegel hinausragen, überbreite Spritzlappen unter dem Rücklicht und ein Radio. Und im Teehaus sitzen dann diese tibetischen „Rocker“ mit schrägen Hüten, einige mit Lederjacken. Sie trinken Tee, sprechen gedämpft, sind freundlich und zuvorkommend.

Die heißen Quellen von Thetapury sind die dritte heilige Stätte in dieser Gegend neben dem Kailasch und dem Manasarovar See. Sie sind jetzt kanalisiert und in ein Haus umgeleitet. Die albernen Damen des Hauses wollen den unverschämten Preis von 60Yuan für ein Bad. Wir schauen stattdessen das Kloster an, die lange Reihe von Manis, den rötlich/weißen Anstrich der Felsen, was an die Farbe der Klöster hier erinnert, die vielen Chorten und den Fluss, der von Gebetsfahnen überspannt wird in den letzten Sonnenstrahlen. Das Hotel am Kloster besteht aus einem gekalkten Lehmhaus und kalten Zimmern. Nachts steigen wir über den bereits niedergetretenen Zaun und baden die Füße in den noch frei hervorsprudelnden Resten der heißen Quellen. Der Dampf wirkt gespenstisch im kalten Mondlicht.

Guge, versunkenes Königreich im Canyon

Aufbruch um 7:30Uhr, 1 Stunde vor Sonnenaufgang. Zu so einem frühen Start waren Fahrer und Reiseführer nur zu überreden, in dem wir gleichzeitig beteuerten, dass dies eine Ausnahme sei. Etwa 5 Grad Minus. Böse Überraschung: Der Jeep heizt nicht. Die Scheiben bleiben teilweise vereist, bis die Sonne schon längst über dem Horizont steht. Das Frühstück war karg, unterwegs schlafen die 2 Dörfer noch, durch die wir vor dem Pass kommen, so dass wir kein richtiges Frühstück einlegen können.
Die Schotterstraße windet sich einen Berg hinauf, der aus weichem Gestein und Geröll besteht. Der Jeep trägt uns durch weitläufige Berge, die rot, rostbraun und grün schimmern. Hier sind fast alle Flüsse gefroren und die Reifen brechen durch krachendes Eis. Dann kommen unter uns die endlosen bis 300m hohen Canyons von Guge in Sicht. Unser mitreisender Fotograf lässt häufig halten, um Bilder zu schießen. Dann senkt sich der Schotterweg hinab in das Labyrinth von Schluchten, das hier Steinwald genannt wird. Die bizarrsten Formen begegnen uns, manchmal geben wir ihnen Namen, wie zum Beispiel „Die Apostel“. Das weiche Gestein leuchtet gelb bis rötlich.
Die Chinesen haben auch hier eine Brücke über das breite Flussbett gebaut, dann sind wir in Tsata, auch Thoeling genannt. Hervorragendes Essen erwartet uns und söhnt uns mit den Tagen von Tsampa, dem tibetischen Gerstenmehl und dem Gewichtsverlust aus.

Guge! Es ist eine Entdeckung. Ein 800 Jahre altes Königreich, dessen Hauptstadt an und in den weichen Fels gebaut ist. In den unteren Ebenen befinden sich die Höhlen und Häuschen für die normalen Sterblichen. In den mittleren Etagen lebten die Mönche, ebenfalls in Höhlen und Häusern. Prächtige Gebetshallen mit kunstfertigen Fresken und Statuen zeugen hier vom kulturellem Reichtum Guges, der mit europäischen Werken der damaligen Zeit mithalten kann. Auf dem Gipfel des Berges thront luftig und das Reich überblickend der Sommerpalast des Königs. Diese Etage ist ausschließlich durch einen Tunnel zu erreichen, der immer knapp an der Außenwand des Felsens entlangführt und so Fenster ermöglicht. Dieser Tunnel ist ein perfektes Instrument zur Verteidigung. Die Rückseite des Berges wird von einer uneinnehmbaren Steilwand begrenzt. Der gesamte Fels wird von Höhlen und Höhlensystemen durchzogen. Dabei grenzt das Vertrauen, das die Baumeister in den weichen Stein hatten schon an Leichtsinn. Tatsächlich sind in den Jahrhunderten einige Teile der Festung und auch der Stadt weggespült worden. Was geblieben ist, beeindruckt durch seine Kunstfertigkeit, seine verwinkelte dreidimensionale Struktur und seine Lage in einer wüstenartigen Landschaft von Canyons.